Kinderrechte: Und wo bleibt das Recht aufs Spielen?

1989 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte des Kindes. „Eine wichtige Sache, denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, sagt der Pädagoge und Psychologe Jörg Maywald im Interview. Und auch in Deutschland seien Kinderrechte keinesfalls eine Selbstverständlichkeit.

Ist das Bewusstsein für eigene Rechte etwas, das Kindern angeboren ist, oder muss die Gesellschaft ihnen Kinderrechte vermitteln?

Jörg Maywald: Rechtsbewusstsein ist sicherlich etwas, was sich bei Kindern erst allmählich herausbildet. Aber was sehr früh vorhanden ist, ist Gerechtigkeitsempfinden. Ich wage mich weit vor, aber ich denke, dies gehört zur biologischen Veranlagung des Menschen. Experimente haben beispielsweise gezeigt, dass schon eineinhalb Jahre alte Kinder eine hohe Hilfsbereitschaft sogar völlig Fremden gegenüber zeigen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt des Menschseins: sich in Krisen zusammenzutun statt zu flüchten oder zu erstarren. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und Mitleid zu zeigen. Und die Fähigkeit zu sehen, ob jemandem Gerechtigkeit oder Unrecht widerfährt.

Wie reagieren Kinder darauf, wenn Kinderrechte verletzt werden?

Maywald: Ganz kleine zunächst mit Unwohlsein. Je älter sie werden, desto klarer können sie sich dann natürlich artikulieren. Erstaunlich ist übrigens, welch großen Wert Kinder darauf legen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch andere zu ihrem Recht kommen. In einer Unicef-Umfrage unter Kindern kam heraus, dass es den meisten am wichtigsten war, dass alle Kinder gleiche Rechte haben. Das erklärt auch, warum Schulkinder beispielsweise sehr empfindlich reagieren, wenn Flüchtlingskinder, die in dieselbe Klasse gehen, wegen der Ortspflicht nicht mit auf Klassenfahrt gehen dürfen. Für die Kinder ist das ganz klares Unrecht.

Warum müssen wir eigentlich zwischen Menschenrechten und Kinderrechten unterscheiden?

Maywald: Also zunächst, um es deutlich zu sagen: Von Beginn an sind Kinder vollwertige Menschen und Träger aller Menschenrechte. Das war in Deutschland übrigens bis 1968 juristisch nicht eindeutig. Es bedurfte erst eines Urteils des Bundesverfassungsgerichtes, um das klarzustellen. International wird heute so argumentiert, dass Kinder Erwachsenen einerseits gleich sind, es aber auch wichtige Unterschiede gibt. Kinder brauchen daher auf ihre besonderen Bedürfnisse zugeschnittene Kinderrechte.

Kann man solche besonderen Kinderrechte an einem Beispiel verdeutlichen?

Maywald: In Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention heißt es zur Meinungsfreiheit, dass jedes Kind das Recht hat, dass seine Meinung alters- und reifemäßig berücksichtigt wird. Auch ein Säugling hat einen Willen, er zeigt ihn nur anders als ein Erwachsener, nämlich durch Körpersprache, durch Wohl- oder Unwohlsein, durch Spannung und Entspannung. Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, diese Meinungs- und Willensäußerung wahrzunehmen und sie altersangemessen in die Entscheidung mit einzubringen, was im Sinne des Kindes ist.

Das hört sich eigentlich einfach an. Dennoch scheint es in Deutschland Diskussionsbedarf zu geben. Wo genau?

Maywald: Es hapert bei uns schon auf der rechtlichen Ebene, zum Beispiel im Asylrecht. Demnach gelten Flüchtlingskinder schon ab 16 Jahren als Erwachsene. Das verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Außerdem haben Flüchtlingskinder bei uns nicht dieselben Rechte auf Gesundheitsversorgung, zum Beispiel was bestimmte notwendige Therapien angeht.

Und wie sieht die Umsetzung der Kinderrechte für deutsche Kinder aus?

Maywald: Da gibt es nach wie vor große Probleme bei den drei Bereichen Bildung, Gesundheit und Armut. In Deutschland entscheidet die Herkunft in weiten Bereichen über den Bildungserfolg. Das Risiko, als armes Kind krank zu werden, ist deutlich höher als bei Wohlhabenden. Und wenn wir über Armut reden, dann ist die Messlatte nicht der Sudan, sondern ein angemessener Lebensstandard hier bei uns.

Sehen Sie aktuell ein Problem, das man leicht übersehen könnte?

Maywald: Ja, das ist das Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Erholung. Immer mehr Schülerinnen und Schüler klagen über einen zunehmend großen Druck, weil der formelle Schulbereich immer weiter ausgedehnt wird. Das beginnt schon in der Kita, wo das Spiel verzweckt wird und vor allem dazu dienen soll, etwas zu lernen. Allerdings ist auch von Seiten der UN klar: Kinder lernen beim Spielen, aber sie spielen nicht, um zu lernen. Spiel ist ja geradezu das Gegenteil von formellem Lernen. Das Recht auf Spielen droht bei uns gerade bedenklich zu kippen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich bei ZDF online / heute.de erschienen. Autor: Christian Thomann-Busse