Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Alltag: „Mütter und Väter erfahren oft zuletzt etwas“

Wie können wir Kinder davor schützen, dass sexueller Missbrauch sie trifft, dass sie unter sexueller Gewalt leiden? Ein wichtiger Schlüssel ist das Verhalten von Erwachsenen, so die Expertin Ursula Enders im Interview.

Die Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche hat das Missbrauchs-Thema gerade ja aktuell wieder in die öffentliche Diskussion gebracht. Ein Thema nur in der katholischen Kirche?

Ursula Enders: Sexuelle Gewalt in Institutionen gibt es in allen Bereichen, nicht nur in Kirchen und Verbänden, sondern auch in Schulen, Heimen oder Sportvereinen. Und ebenso bei privatwirtschaftlichen Angeboten – also im Musikunterricht, in Fitnessstudios, auf Ferienreisen oder beim Sport. Mädchen begegnen solcher Gewalt oft in Reitställen, Jungs hingegen im Fußballverein.

Für Eltern dürfte es kaum eine schlimmere Vorstellung geben. Warum schweigen Kinder oder Jugendliche so oft?

Enders: Das ist eine falsche Vermutung. Sie schweigen eben meist nicht darüber. Alle Mädchen und Jungen geben Hinweise, wenn sie sexuelle Gewalt erfahren haben. Nur erkennen Erwachsene das häufig nicht – entweder weil sie sich nicht mit dem Thema beschäftigt haben oder weil sie es bagatellisieren. Wir erleben es in der Beratung immer wieder dass Kinder und Jugendliche sich austauschen und untereinander wissen, wer was erlebt hat. Mütter und Väter hingegen sind meist diejenigen, die als letzte von Mädchen oder Jungen über sexuelle Gewalterfahrungen informiert werden.

Weil sexueller Missbrauch den Kindern oder Jugendlichen peinlich ist?

Enders: Eher weil sie ihnen nicht das Leid zufügen möchten. Die meisten Täter erpressen Kinder und Jugendliche mit der Liebe zu den eigenen Eltern. Sagen dass die Eltern, wenn sie das erfahren, beispielsweise krank oder wütend werden. Dies ist Teil der Täterstrategie, damit Kinder sich nicht ihren Eltern anvertrauen können.

Und wie können Eltern ihre Kinder nun so stark machen, dass sie sich ihnen anvertrauen, dass sexueller Missbrauch aufgedeckt wird?

Enders: Eher müssen Eltern stark gemacht werden. Sie müssen im Alltag ihren Kindern vermitteln, wie wichtig ihnen das Thema ist. Erwachsene müssen eingreifen, wenn jemand auf einer Familienfeier Qualitätsurteile über den Busen eines Mädchens fällt. Sie müssen eingreifen, wenn Erwachsene Kinder betatschen und das Kind aber signalisiert, dass es gerade nicht so in den Arm genommen werden will. Wenn Kinder erleben, dass andere für sie Partei ergreifen, dann wird ihr Widerstand gegen sexuelle Übergriffe gestärkt. Erwachsene müssen ihnen zudem ihr Recht auf Hilfe vermitteln und sich selbst als vertrauenswürdig erweisen. Dazu gehört auch die Botschaft: Hilfe holen ist kein Petzen.

Sexueller Missbrauch: Wie wichtig ist dabei ein offener Umgang in der Familie mit dem Thema Sexualität?

Enders: Natürlich ist das wichtig. Es gibt einige Familien, in denen überhaupt nicht über Sexualität gesprochen wird. Auch in Kindergärten und Schulen kommt Sexualpädagogik oft viel zu kurz. Auf der anderen Seite aber haben wir heutzutage oft eine massiv ausgeprägte Sexualisierung des Alltags, dadurch werden Kinder gegenüber sexuellen Übergiffen desensibilisiert und nehmen ihre eigenen persönlichen Grenzen und die anderer nicht mehr wahr.

Wie zeigt sich das zum Beispiel?

Enders: Viele Kinder werden heute von klein auf tagein, tagaus fotografiert. Da wird die Widerstandskraft gegenüber ungewollten Aufnahmen Stück für Stück gebrochen. Oft werden von Eltern auch den Kindern peinliche Fotos herumgereicht, über die Dritte sich dann auch noch amüsieren. Das ist psychische Gewalt. Wer sein Leben lang gelernt hat, dass man so zur Schau gestellt werden darf, der wird sich später auch weniger wehren können, wenn andere Sexbilder oder Pornofilme mit einem machen wollen. Wir erleben das inzwischen häufig in unserer Beratung. 50 Prozent der Anfragen haben mit Bild- und Videomaterial zu tun.

Sind es eigentlich mehrheitlich Erwachsene, die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche anwenden?

Enders: Nein, am häufigsten ist es so, dass sexuelle Übergriffe gegen Mädchen und Jungen von Gleichaltrigen verübt werden. Darauf hat Zartbitter auch schon seit mehreren Jahren die gesamte Präventionsarbeit umgestellt. Unsere ergänzende Botschaft lautet dann: Erwachsene dürfen das auch nicht. Wenn man dafür sorgt, dass Kinder untereinander ihre persönlichen Grenzen achten, dann ist im Falle von Übergriffen durch einen Erwachsen die Solidarität untereinander so groß, dass Einzelne schneller Hilfe holen.

Und wie sieht die Entwicklung beim Thema sexueller Missbrauch durch Erwachsene aus?

Enders: Nach rund 40 Jahren, die ich mich damit beschäftige, habe ich heute den Eindruck, dass dies in der Vergangenheit weniger geworden ist. Vermutlich weil die Täter und Täterinnen auch aufgrund eines gewachsenen öffentlichen Bewusstseins vorsichtiger geworden sind. Möglicherweise auch, weil Kinder und Jugendliche heute mehr Widerstand leisten und sich früher Hilfe holen. Auf jeden Fall haben wir in der Beratung deutlich weniger Fälle, in denen Missbrauch über viele Jahre gelaufen ist. Das ist eine positive Entwicklung und das macht mir Mut.

Sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt: Früh Grenzen ziehen

Wann hört der Spaß auf? Zartbitter, Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, hat dazu viele Materialien zusammengestellt. Auch als Anregung für Erwachsene, sich über manche Bagatellisierung Gedanken zu machen, hier ein Beispiel aus „Tipps gegen sexuelle Übergriffe im Sport“:

„Manchmal wird Mädchen der Sport durch Erwachsene, Jungen oder andere Mädchen vermiest. Diese belästigen Kinder und Jugendliche durch Worte, Blicke, Bilder und Berührungen oder missbrauchen sie. Diese Menschen verletzen die persönlichen Grenzen von Mädchen auf sehr unterschiedliche Art und Weise, indem sie z.B.

  • auf den Busen oder Po glotzen 
  • ständig über Sex reden 
  • Mädchen nach ihren sexuellen Erfahrungen ausfragen 
  • blöde, peinliche oder nervende Bemerkungen über Sex oder über das Aussehen und insbesondere über den Körper von Mädchen machen 
  • schweinische und beleidigende Sprüche über Mädchen, Frauen und Jungen klopfen 
  • bei Hilfestellungen Mädchen zwischen die Beine oder an den Busen packen und so tun, als ob dies ein Versehen sei 
  • auf eine komische oder unangenehme Art und Weise ein Mädchen berühren, ihr zu nahe kommen oder an ihr riechen 
  • Mutproben, Aufnahmeprüfungen oder Spiele fordern, die peinlich oder eklig sind oder Angst machen 
  • ihnen peinliche Bilder oder Videos simsen, mailen oder zeigen. 

Die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Enders ist Mitgründerin (1987) von Zartbitter Köln e.V., einer Kontakt- und Informationsstelle für Menschen, die als Kinder oder Jugendliche betroffen waren oder sind – sexueller Missbrauch ist das Thema. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Schutz vor Missbrauch in Institutionen, Schutz vor sexualisierter Gewalt durch gleichaltrige Kinder und Jugendliche in den Medien sowie die Erstellung von Präventionsmaterialien und Informationsmaterialien.

Dieser Beitrag ist ursprünglich bei ZDF online / heute.de erschienen. Autor: Christian Thomann-Busse